Ich habe mich entschieden. Jeder große Plan beginnt mit einem kleinen Schritt; und das bedeutet in diesem Fall, einmal bei einem Brevet teilzunehmen. Also packe ich mein Zeug zusammen und radle an diesem Ostersonntagabend los zum Hauptbahnhof. Dort besteige ich den Regionalzug Richtung Salzburg und fahre nach Bernau am Chiemsee. Inzwischen ist es dunkel geworden; ich radle die 14 Kilometer hinter bis nach Unterwössen, wo ich mein Fahrrad dann am Bach entlang schiebe und schließlich im Schein der Taschenlampe eine Wiese mit einem Spielplatz entdecke. Im Schutz der Dunkelheit baue ich dort mein Zelt auf und lege mich schlafen.
Am nächsten Tag stehe ich gegen sechs Uhr auf; Nebel liegt über dem Ort, die Kopfweiden am Bach stehen verschlafen da, aber der Himmel ist blau und die ersten Sonnenstrahlen sind auf den umliegenden Gipfeln zu sehen. Nachdem ich mein Zelt eingepackt habe, begebe ich mich zur Tankstelle, wo das Brevet startet. Mich erwartet schon eine Gruppe Leute mit Rennrädern; Jörg, der Veranstalter, steht mit seiner Frau am Anmeldungsstand, wo sie auch Kaffee und frische Muffins verteilen. Mit so einem netten Empfang hätte ich nicht gerechnet. Ich bleibe der einzige Liegeradler.
Um acht Uhr geht es los. Hinter Unterwössen kommt gleich die erste Steigung; die anderen Radler lassen es sehr langsam angehen, aber als es steiler wird, übertreibe ich es nicht. Dann geht es wieder bergab; vor Reit im Winkl kommt ein Gefälle, wo ich den Rennradlerpulk vor mir wieder überhole und dann selber dafür verantwortlich bin, die Abzweigung links zu finden. Dann geht es wieder sanft bergauf, vorbei an Seegatterl, wo die Rennradler wieder vorbeiziehen. Es folgen drei Seen, traumhaft zwischen den Bergen gelegen, neben der noch vollkommen leeren Bundesstraße, und die ersten Sonnenstrahlen beginnen, den Nebel auf der Wasseroberfläche zu verscheuchen.
Dann geht es hinunter Richtung Ruhpolding, aber vorher rechts ab, Richtung Inzell. Wieder bergauf über einen Bergsattel mit weitem Blick über grüne Wiesen; die Anderen haben mich abgehängt, ich bin allein. Vor Inzell geht es noch einmal rechts, an Gletschergarten, Mauthäusl und Weißbachklamm vorbei, bis ich schließlich Bad Reichenhall erreiche. Auf der Bundesstraße kommt man zügig durch; eine Tankstelle ist die erste Kontrollstelle. Dort treffe ich die anderen Radler wieder. Gemeinsam mit ihnen geht es weiter; über Mauthausen und vorbei am charakteristisch auf einem Hügel gelegenen Anger lasse ich die Berge hinter mir und komme in offeneres Gelände, wo der Gegenwind so richtig angreifen kann. Und es geht leicht bergab. Die meisten Radler aus dem Trupp habe wieder hinter mir gelassen und kämpfe alleine. Schließlich erreiche ich Waging am See und verfahre mich am Kreisverkehr, weil die Beschreibung im Roadbook uneindeutig ist. Nach einigen Minuten Gegenwind drehe ich um und fahre in den Ort hinein; dort ist die Tankstelle, die die zweite Kontrollstelle ist. Einer fragt mich: „Warst du in der Kirche und hast gebeichtet?“
Jetzt geht es über kleine Straßen weiter; zuerst gleich einmal steil bergauf durch den Wald. Ich bin wieder abgehängt. Dann über Otting, Holzhausen nach Palling; im Wald kann ich dort einen Radler wieder einholen; ein kleiner Trost. Dann geht es bergab nach Stein an der Traun, wo viel zu wenig Zeit bleibt, die Burg des Raubritters Heinz von Stein und die Verwitterungsstrukturen am Steilhang zu bewundern, ebenso wie die prächtige Kirche von Altenmarkt. Dann geht es über eine flache, aber mir endlos erscheinende Steigung mit Gegenwind nach Obing (wir haben Westwind; während man vom Rückenwind in den Bergen nicht viel merkte, kommt er auf diesem exponierten Hügelland als Gegenwind umso deutlicher). Die vor längerer Zeit abgehängten Radler tauchen alle wieder auf und ziehen an mir vorbei. Hinter Obing fahre ich dann gemeinsam mit dem Schlusstrupp über die letzten giftigen Hügel und dann hinunter nach Amerang, und weiter nach Halfing, entlang der Bahn (mit interessantem Viadukt!).
Dort befindet sich gegenüber dem Bahnhof wieder eine Kontrollstelle. Wir machen eine halbe Stunde Pause und sitzen in der warmen Nachmittagssonne; gegenüber fährt einer der seltenen Sonderzüge auf der schon einmal stillgelegten und jetzt reaktivierten Strecke. Dann geht es weiter; tendenziell bergab, so dass ich bei den Abfahrten meine Truppe hinter mir lasse und alleine Richtung Rosenheim rase, über Prutting und Söchtenau. In Stephanskirchen geht es auf die Umgehungsstraße und weiter über den Ziegelberg; im weiteren Abschnitt kommen wieder ein paar Rennradler in Sicht, aber ich hole sie nicht ein. Bis Rohrdorf zieht es sich etwas; bei Neubeuern kommt dann eine unerwartet spektakuläre Burg (ja, die Gegend kennt man normal nur von der Autobahn, da fährt man an sowas immer blind vorbei), hinter Nussdorf kommt noch einmal ein kurzer, gemein steiler Hügel, und schließlich erreiche ich die Walchsee-Bundesstraße bei Niederndorf, wo die letzte Kontrollstelle ist. Ich war auf der letzten Etappe schnell; die anderen aber auch, sie kommen bald nach mir.
Ich halte mich nicht lange auf, weil ich weiß, dass der Inn tief liegt und bis Unterwössen noch einer der höchsten Punkte der Strecke überquert werden muss. Es geht gleich bergauf, lange und zäh; ich erwarte, gleich wieder vom Trupp eingeholt zu werden, aber plötzlich bin ich oben am Walchsee, der wie ein Juwel vor dem zahmen Kaiser liegt. Wunderschön! Es folgt eine Abfahrt nach Kössen, danach noch einmal leicht bergauf nach Klobenstein, und zurück in Deutschland wieder bergab über die Serpentinen im Wald nach Schleching. In der Abendsonne geht es flott dahin mit einem lauwarmen Rückenwind ... jaaa ... und ich bin gegen sechs Uhr in Unterwössen. Schnell noch Stempelbuch abgeben; dann warte ich auf dem Parkplatz auf die anderen, um dann gemeinsam in die Pizzeria zu gehen. Nach dieser schönen Tour mit Traumwetter lassen wir den Abend mit netten Gesprächen ausklingen; und Jörg ist dann noch so freundlich und fährt mich mit dem Auto nach Übersee zum Zug. Das ist ein Service! Ich bin begeistert von der netten Atmosphäre, von der tollen Organisation durch Jörg und seine Familie, und – obwohl ich anfangs geflucht habe, dass die Strecken ein so bergiges Profil haben müssen – ich bin begeistert von der spektakulären Alpenlandschaft, die man auf dem Rad besonders intensiv erlebt.
300 km bin ich schon einmal an einem Tag gefahren. Es ist zwar anstrengend, aber machbar. Nachdem das letzte Brevet so gut lief, werde ich mich an diesem versuchen. Ich will mir die Anreise am Vorabend mit Übernachtung sparen, darum fahre ich mit dem Auto (Züge fahren so früh noch nicht); vor sechs Uhr fahre ich bei meinen Eltern los, und bin schon gegen sieben Uhr in Unterwössen. Das Wetter ist wieder einmal super; und diesmal bin ich nicht der einzige Liegeradler, Carsten und Oliver sind nämlich mit einem Liegerad-Tandem am Start. Abfahrt ist um acht Uhr.
Diesmal geht es in die andere Richtung los: über Schleching und Kössen nach Walchsee, dann vorbei an Rosenheim nach Vogtareuth. Aber ich bin nicht so ganz fit; ich tue mich schwer, meiner Truppe zu folgen, und muss bei Griesstätt abreißen lassen, für eine kleine Pause und um was zu essen. In Wasserburg treffen wir uns wieder an der ersten Kontrollstelle, kurz vor der Innbrücke. Jörg wollte eigentlich wieder bergauf und auf die Umgehungsstraße, aber der Weg durch die Innenstadt ist weniger umständlich und schöner. Dafür sind die Steigungen aus der Innschleife hinaus auch satt; aber bald sind wir oben und fahren auf der B 304 nach Ebersberg. Inzwischen ist es zwölf Uhr, und gut 100 km liegen hinter uns. Meine Eltern wissen bescheid und sitzen am Marktplatz; als wir vorbeikommen, erwischt mich meine Mutter mit dem Fotoapparat. Aber es geht schnell weiter; zuerst bergauf zum Forst, und dann über den Radweg durch den Forst mit leichtem Gefälle flott dahin. Aber ich war zu schnell unterwegs, ich kann das Tempo einfach nicht mehr halten; nach einer Pinkelpause kurz vor Forstinning sind die Anderen uneinholbar weg.
Bis Erding geht es jetzt zäh dahin. Und das Roadbook ist nicht eindeutig. Es klingt so, als solle ich auf die viel befahrene Umgehungsstraße; dort umfahre ich Erding, merke aber, dass das falsch sein muss, und fahre in die Stadt. Endlich erreiche ich die Tankstelle, zu der ich einfach nur geradeaus hätte fahren müssen. Die Anderen sind schon wieder weg; also lasse ich mir Zeit mit der Pause. Dann geht es weiter; nach Osten, durch ein leicht welliges Land, zwischen Rapsfeldern und durch Alleen dahin. Dummerweise ist hier alles sehr exponiert, und wir haben – wie bestellt – Ostwind. Ich bin alleine, weit und breit kein anderer Randonneur; nur kurz vor Dorfen überholt mich einer. Dorfen ist eine große Baustelle; dahinter geht es wieder bergauf und nach Schwindegg, das ich auf der neuen Umgehungsstraße umfahre. Sie führt hinunter ins Isental; aber wegen des Gegenwinds ist die Abfahrt nicht besonders rasant, und auch im Tal geht es wieder nur zäh dahin.
Bei Heldenstein treffe ich auf die B 12; diese ist dummerweise Autostraße – aber mangels Ortskenntnisse und Beschilderung fahre ich darauf (wie im Roadbook vorgesehen), was aber keinen Spaß macht. Es ist viel Verkehr. Zum Glück geht es schon in Ampfing wieder runter, und dann nach Süden durch den Wald nach Waldkraiburg. Hinter dem ehemaligen Bahnhof geht es links und somit wieder fast nach Norden, so dass ich kurz vor Mühldorf wieder auf die B 12 treffe (dieser Umweg war nötig, weil zwischen Ampfing und Mühldorf die Autobahn beginnt). Eigentlich erwarte ich eine schöne Abfahrt hinunter ins Inntal; aber die fällt weit weniger spektakulär aus (zumindest ist es im Tal vorerst windstill). Es geht eine ganze Weile eben dahin; dann kommt endlich Altötting, das zusammen mit Neuötting auf einer Umgehungsstraße umfahren wird (es zieht sich, weil Wegweiser immer wieder in diese Orte zeigen, so dass man das Gefühl hat, nicht vorwärts zu kommen).
Dann erreiche ich wieder die Autobahn. Die Straße parallel dazu ist ab hier keine Bundesstraße mehr, und hat recht wenig Verkehr. Unterwegs sehe ich einen anscheinend verunglückten Radfahrer – doch hoffentlich niemand von uns? Dann steigt die Straße an, verschwindet im Wald, und bald darauf kommt die Ausfahrt nach Marktl, wo die nächste Kontrollstelle ist. An der Tankstelle nördlich der Innbrücke. Ich bin fertig; ich kaufe mir Saft und eine Packung Chips und futtere sie in Ruhe auf. Während dessen tauchen immer wieder junge Leute mit ihren aufgemotzten Autos auf, die ein paar Kleinigkeiten am Sonntag einkaufen. Ich vermute, ihnen ist das Konzept, zumindest für kurze Entfernungen nicht das Auto zu benutzen, fremd. Übrigens gibt es hier selbst an der Tankstelle Papst-Postkarten, Papst-Lasergravuren und sicherlich auch Papst-Bier.
Frisch gestärkt mache ich mich wieder auf den Weg. Mit 370 m ist das der tiefste Punkt der Strecke; ab jetzt geht es bergauf. Dafür endlich kein Gegenwind mehr. Es ist später Nachmittag, und mit der sinkenden Sonne wird auch der Wind schwächer. Erst einmal geht es 50 Höhenmeter bergauf durch den Wald; dann leicht bergab vorbei am Wacker-Gelände und nach Burghausen. Dort verpasse ich leider die Abzweigung und fahre in die Altstadt hinunter. Die übrigens wunderschön ist. Aber danach muss ich eben wieder bergauf, entlang des baumbewachsenen Hochufers der Salzach. Dann verlasse ich den Wald und treffe auf eine T-Kreuzung. Wo muss ich jetzt hin? Ich entscheide mich für links, Richtung Tittmoning. Inzwischen bin ich auf 550 m oben, und sehe vor mir die Berge, mit einer tiefer liegenden Ebene davor. Da will ich nicht runter! Die Stadt, das müsste Tittmoning sein (liegt an der Salzach, also im Tal), darum biege ich links ab. Über Asten erreiche ich Tyrlaching. Es ist ein hügeliges Land, ich habe eh nicht mehr viel Kraft, und jeder Hügel bremst mich deutlich.
Weiter geht es über Palling Richtung Süden. Ich hoffe, dass Traunstein endlich kommt. Angeschrieben ist es fast nie. Ich hoffe, ich fahre keinen Umweg. Ich weiß, dass Traunstein und Unterwössen so auf gut 500 m Höhe liegen, also gehe ich von keinen weiteren Steigungen aus, aber bis Kammer steigt die Straße noch bis auf 630 m. Die Sonne ist untergegangen, inzwischen wird es dunkel. Ich ziehe meine vorschriftsmäßige Warnweste an. Durch den Wald geht es dann bergab nach Traunstein, an der Traun unter einem hohen Eisenbahnviadukt durch, und in das Stadtzentrum. Aber das reicht nicht: Direkt danach geht es wieder steil hoch. Ich kann nicht mehr und muss schieben. Dann kommt bald eine T-Kreuzung; wohin? „Rosenheimer Straße“ klingt gut, ich fahre bergab; aber die Himmelsrichtung ist falsch, also bergauf und in die andere Richtung. Vorbei am Bahnhof, dann kommt endlich die Tankstelle, die letzte Kontrollstelle. Sie hat zum Glück noch offen. Eine halbe Stunde später wäre sie zu, und ich müsste einen McDonalds suchen, der als Ersatz-Kontrollstelle dient.
Am Ortsausgang ruft mich Jörg an, wo ich denn bleibe. Die anderen sind schon längst angekommen. Ich bemühe mich ja. Es geht bergab nach Vachendorf, dann bergauf nach Bernhaupten (hier kenne ich mich aus), und hinter der Autobahn kommt dann eine lange Abfahrt nach Bergen. Wunderbar! Anschließend geht es nach Westen, immer am Fuß der Berge entlang. Das Vollmondlicht blendet fast – ich denke immer, ein Auto kommt, aber ich bin ganz alleine und schleiche dahin. Mehr als 20 km/h schaffe ich einfach nicht, auf ebener Strecke. Dann erreiche ich die Straße ins Achental, und fahre über Marquartstein nach Unterwössen. Dort klingelt noch einmal das Handy; Jörg fragt, wo ich bleibe. Ja, ich bin gleich da; ich muss nur noch den Weg zu seinem Haus finden. Das ist nicht ganz einfach, wenn man es nur als mündliche Beschreibung hat, aber schließlich finde ich es. Es ist gegen zehn Uhr abends; ich trinke eine Kleinigkeit und esse ein paar Happen, bin aber für alles andere viel zu fertig. Wir (Roman ist auch noch da) unterhalten uns noch eine ganze Weile. Als ich wieder halbwegs fit bin, schwinge ich mich auf mein Rad, fahre hinunter in den Ort, verlade es ins Auto, und fahre heim. Ich bin nicht übermäßig müde, nur sehr erschöpft, daher geht das Autofahren recht gut. Zurück in Ebersberg falle ich nur noch ins Bett.
Das letzte Brevet war schon schwer; ich bin mit letzter Kraft angekommen. Aber immerhin bin ich angekommen. Kein Grund also, das 400-km-Brevet nicht zu probieren. Ich habe mir vorgenommen, weiterzumachen, bis ich scheitere. Und was ich auch gelernt habe: Wie wichtig es ist, fit und ausgeschlafen an den Start zu gehen. Also übernachte ich wieder in Unterwössen – nicht mit dem Zelt, sondern in einer Pension, die auch nur 20 € kostet. Nachdem es abends nichts zu tun gibt, gehe ich gegen zehn Uhr ins Bett und bin auch bald eingeschlafen.
Beim Frühstück treffe ich auf Manfred aus Erlangen; er hat das letzte Brevet abgebrochen, weil nach einer durchfahrenen Nacht und einer anschließenden Reifenpanne die Motivation am Nullpunkt war. Ich hoffe, mir geht es in dieser Hinsicht besser.
Start ist um 7:00 Uhr. Zuerst geht es wieder über Schleching nach Kössen, aber dann weiter nach Sankt Johann in Tirol. Es ist eine kleine hügelige Straße, und es beginnt zu regnen (dummerweise gerade auf den Abfahrten). Ich fahre seit Kössen alleine, treffe aber dann auf Manfred. Schließlich kommt von hinten noch Jörg daher. Dummerweise bleibt Manfred zu lange auf dem Radweg, der dann von der Straße abbiegt, so dass ich mit Jörg alleine bin.
Wir erreichen Kitzbühel. Dieser Ort zieht sich lange dahin; es ist relativ viel Verkehr, und die Straße steigt leicht an – in der Summe ist das nervig, weil die häufigen Verkehrsinseln verhindern, dass die nachfolgenden Autos uns überholen können.
Dann holen wir Carsten ein. Gemeinsam geht es hinauf zum Pass Thurn – zuerst steigt die Straße gleichmäßig bis rund 1000 m, dann kommen Serpentinen. An einer verschalte ich mich, es klingt knarrend, und ich habe ein Problem mit der Kettenleitrolle. Das hintere Kettenrohr hat sich gelöst und ist in die Rolle geraten, so dass von dieser ein Stück abgesprungen ist (zum Glück noch nicht missionskritisch). Ich muss anhalten und versuche, mit einem Stück Draht das hintere Rohr neu fixieren, damit es nicht mehr in die Rolle geraten kann.
Nach ein paar Minuten ist das erledigt, ich fahre weiter bergauf. Auf der Passhöhe haben die Anderen freundlicherweise gewartet; gemeinsam geht es hinunter nach Mittersill. Recht steil, aber mit nur wenigen Kurven. Unten biege ich falsch ab, weil wir zwar nach Westen müssen, aber die Tankstelle (= Kontrollstelle) etwas östlich der Kreuzung liegt.
Dann geht es flach dahin durch das Tal, langsam ansteigend. Das Wetter ist jetzt endgültig super, die Sonne scheint. Wir fahren bei kaum Verkehr neben dem Gleis der Schmalspurbahn entlang, und bekommen unterwegs durch ein Seitental einen grandiosen Blick auf den Großvenediger mit seinem Gletscher.
Kurz vor Krimml, nach einem kurzen Anstieg, machen wir noch einmal Pause, bevor es zum Gerlospass hinaufgeht. Ein paar Riegel futtern, was trinken, dann kann es losgehen. Jörg ist schon früher gefahren, weil er meint, ich würde ihn eh einholen. Ich warte noch auf Carsten; gemeinsam fahren wir los. Aber er muss schon sehr kämpfen; ich bin ja schon nicht der schnellste Bergfahrer, aber er ist nach kürzester Zeit außer Sicht und taucht auch nicht mehr auf, als ich zweimal bei Aussichtspunkten anhalte und den Blick auf die Krimmeler Wasserfälle genieße. Weiter oben, im Bereich der Latschen, steht die durch die Mittagssonne erwärmte Luft; und so bin ich froh, als ich gegen 13:00 Uhr, nach rund einer Stunde Aufstieg, auf der Passhöhe ankomme. Dort ist eine Mautstation; ich fülle meinen Camelbak auf, und mache mich auf die Abfahrt ins Zillertal.
Zuerst geht es mit nur geringem Gefälle dahin, und ab hier macht sich der Gegenwind aus Westen bemerkbar. Bei Gerlos durchfährt man dann ein Tal, und danach geht es auf einer kurvigen Straße bergab. Es herrscht auf dieser Seite zwar relativ viel Verkehr, aber in den Kurven müssen die Autos langsam fahren, so dass man von ihnen nicht überholt wird, sondern in etwa gleichschnell ist. Dann kommen noch ein paar steilere Serpentinen, und ich bin unten im Zillertal, in Zell am Ziller. Zum Glück deute ich den Kartenausschnitt richtig und finde die Tankstelle, die die nächste Kontrollstelle ist, weil die eingezeichnete Umgehungsstraße hier unterirdisch verläuft.
An der Tankstelle treffe ich wieder auf Jörg und den anderen Fahrer, die vor dem Pass früher gestartet waren. Nach einer Pause (ich habe gerade ziemlichen Appetit auf Schinkensemmel, und esse zwei Stück) fahren wir gemeinsam weiter. Auf Carsten brauchen wir wohl nicht zu warten. Mit Gegenwind geht es durch das Zillertal dahin; ich spare meine Kräfte und fahre weitgehend im Windschatten.
Dann erreichen wir Jenbach, und anschließend den Aufstieg zum Achensee. Dieser Südhang liegt in der prallen Nachmittagssonne, wir kämpfen uns schwitzend die steile Straße Richtung Achensee hinauf. Zwischendurch halten wir in einem schattigen Waldstück an; in dem Moment kommt uns eine Polizei-Eskorte auf Motorrädern entgegen, gefolgt von einem Heer Rennradfahrer und mehreren Begleitfahrzeugen, u.a. vom Roten Kreuz und THW. Es muss die Radtour München–Cesenatico des ADFC sein. Die brauchen fünf Tage bis Cesenatico, und ihr Gepäck wird im Begleitfahrzeug mitgenommen – solche Weicheier!
Endlich haben wir den Achensee erreicht. Jörg ist am oberen Ende ausgerissen; ich konnte nicht folgen. Am See geht es alles andere als eben dahin, die Straße verläuft hügelig durch Tunnel und Galerien auf der Ostseite. Hinter Achenkirch treffe ich auf Roman, der am Straßenrand steht und von seinem GPS verwirrt ist. Das Navigationsprogramm sagt ihm nämlich, er solle umdrehen und in Achenkirch abzweigen. Aber ich weiß, dass wir richtig sind – die Abzweigung kommt erst an der deutschen Grenze, kurz vor dem Achenpass.
Gemeinsam mit Roman geht es weiter durch das Achental dahin und dann rüber zum Sylvensteinsee. Erst dort akzeptiert er langsam, dass wir tatsächlich richtig sind. Er ist immer noch recht fit unterwegs – dafür, dass er zuerst mit einer deutlich schnelleren Truppe gefahren ist, dann aber abreißen lassen musste und auch noch vor Anstrengung gekotzt hat. Hinter dem See holen wir Jörg ein, und dann geht es gemeinsam dahin, ab Vorderriß über die Mautstraße nach Wallgau. Diese ist hügelig, und Jörg legt ein ordentliches Tempo vor, so dass ich gegen Ende nicht mehr folgen kann – ich bin innerlich schon auf das Abendessen eingestellt.
In Wallgau ist dann die nächste Kontrollstelle, ein Restaurant. Mit wunderschönem Blick auf das Wettersteinmassiv in der Abendsonne. Wir bestellen uns etwas zu essen; leider ist der Kellner reichlich unfähig, er vergisst Bestellungen und beschwert sich, dass vom vorigen Trupp Radler welche wohl nicht bezahlt hätten – selber schuld, wenn er keinen Überblick mehr hat, sobald mehr als eine Handvoll Gäste da sind.
Nach dem Essen bin ich müde, und mir wird kalt. Nachdem die Sonne untergegangen ist, wird es schnell kühl, darum ist es gut, dass wir bald wieder losfahren. Zuerst kommt eine lange Abfahrt bis zum Walchensee, und dann geht es über eine ungeteerte (aber trotzdem gut fahrbare) Straße um den See und in die Jachenau. Die anderen fahren mit einem ordentlichen Tempo das Tal hinunter; ich habe Probleme, zu folgen. Dann erreichen wir Lenggries und weiter Bad Tölz. Wie immer ärgere ich mich über die dumme Streckenführung über die Ortsumgehung, wenn man ins Zentrum will. Wir fahren einen lästigen Umweg. Im Ort geht es dann in einem Tunnel steil bergauf, wo wieder meine Kette kollabiert – das Kettenrohr hat sich wieder losgerissen. Mir gelingt es nicht mehr, es zu fixieren, weil sich bei den kraftvollen Antritten immer wieder losreißt. Ich muss bergauf schieben und verfluche alles. Zum Glück haben die anderen gewartet bzw. sind umgedreht und zeigen mir den Weg zur Tank- und Kontrollstelle. Dort trinke ich erstmal eine Cola, um wieder fit zu werden, und ersetze dann den Draht am Kettenrohr durch einen Kabelbilder, der stabiler ist.
Inzwischen ist es stockdunkel. Wir fahren ab hier auf der B 472. In Waakirchen geht es erstmal bergauf, dann hinunter durchs Mangfalltal, dann bei Miesbach durchs Schlierachtal, und schließlich durch das Leitzachtal. Diese Täler sind zwar alle relativ tief, aber man kann die Abfahrten mit Schwung nehmen, so dass es auf der anderen Seite nicht mehr so weit nach oben ist. Schließlich kommt die Abfahrt ins Inntal; diese ist schon beeindruckend, weil es in Stufen immer noch weiter nach unten geht. Beflügelt davon, rasen wir in der Ebene dahin über Au und Pang nach Rosenheim.
Auf der Umgehungsstraße müssen wir auf Roman warten, der den Anschluss verloren hat. Dann geht es weiter, stufenweise ansteigend, nach Bad Endorf, und dahinter noch einmal bergauf. Anschließend noch etwas hügelig dahin, bis wir bei Lambach den Chiemsee erreichen und bald darauf Seebruck. Hier sollte im großen Hotel die letzte Kontrollstelle sein; aber die Wirtin hat gedacht, alle Radler seien schon durch, und darum das Hotel zugesperrt. Zum Glück ist Jörg in unserer Truppe, der das regeln wird. Dann geht es weiter Richtung Chieming, und zwar über kleine Straßen direkt hinüber nach Grabenstätt und dann weiter durch das Tal der Tiroler Ache bis nach Unterwössen.
Dort kommen wir gegen drei Uhr morgens an. Was jetzt? Wir sitzen noch zusammen und ratschen; diesmal ist es Roman, der reichlich fertig ist. Nach den Erfahrungen des letzten Brevets hatte ich gedacht, dass ich fast bis zum Morgen brauchen würde und dann gleich in den Zug fallen könnte. Jörg bietet mir an, bei ihnen zu übernachten, und morgens frühstücken wir gemeinsam auf der Terrasse. Dann schwinge ich mich aufs Rad und fahre zum Bahnhof Übersee.
Auch dieses Mal bin ich schon am Vorabend angereist und habe in der Pension übernachtet. Es ist viel wert, gut ausgeschlafen und ohne Stress zu starten. Weil ich annehme bzw. hoffe, auch diesmal im Ziel anzukommen, lasse ich mein Schloss am Parkplatz zurück. Um 7:00 geht es dann los. Erstmal über Schleching, Kössen, Walchsee ins Inntal und dann auf der Bundesstraße dahin Richtung Innsbruck. Bis hinter Wörgl fahre ich relativ alleine, weil ich an den Bergen langsamer als die meisten anderen bin, und bergab schneller. Im Tal hab ich mich dann an die anderen drangehängt (ich bin wieder bei den Letzten dabei), und es geht über Rattenberg nach Innsbruck. Über eine Allee geht es am Flughafen vorbei wieder hinaus aus der Stadt, und dann wieder auf die rechte Seite des Inn.
Irgendwann hinter Innsbruck kommen dann andere Rennradfahrer; weil es gerade gut läuft, hänge ich mich hintendran, und die anderen Randonneure folgen. Bei Telfs grüßt mich ein anderer Speedmachinist am Wegesrand. Jörg macht an der nächsten Tankstelle eine Zwangspause, weil er meint, unser Tempo sei irrsinnig, gerade weil die Steigungen erst noch kommen. Inzwischen ist das Inntal schmäler und weniger grün; statt der Terrassen des Karwendels fahren wir an Schutthängen vorbei. Bei Stams thront das beeindruckende Stift an der südlichen Talseite. Wir fahren parallel zur Bahn und sind fast genauso schnell wie ein Nahverkehrszug, weil dieser immer wieder halten muss. Dann erreichen wir das Ötztal; es geht langsamer, weil der Inn hier tief eingeschnitten ist und die Straße südlich an den Ausläufern der Berge entlang führt, vermutlich auf dem Schutt früherer Bergrutsche.
Hinter dem Ötztal geht es wieder hinunter ins Tal, und dann in Imst wieder bergauf. Während die Autobahn unten am Fluss entlangführt, muss man hier gut 100 Höhenmeter hinauf, und dahinter wieder runter. Inzwischen sind dunkle Wolken aufgezogen, heftige Windböen begleiten unsere Abfahrt, es sieht nach Wolkenbruch aus ... aber dann in Landeck kommt wieder die Sonne heraus. An einer Tankstelle stärken wir uns ein letztes Mal, bevor es bergauf geht. Die Autos fahren ab hier fast ausschließlich durch den Tunnel, und die Arlbergstraße ist leer. Die glimmerhaltigen Phyllite und Gneise glitzern in der Nachmittagssonne, während wir langsam heraufstrampeln. Dann wird es wieder flacher; wir sind in einem Hochtal und fahren mit geringerer Steigung Richtung Sankt Anton am Arlberg, wo es eine Kontrollstelle gibt.
Danach wird es sausteil, und mir reicht gerade so der erste Gang. Andere haben weniger Glück, sie haben eine zu hohe Übersetzung auf dem Rennrad und müssen Serpentinen fahren oder teilweise absteigen. Hinter einer Lawinengalerie kommt endlich die Passhöhe bei St. Christoph, und danach eine flotte Abfahrt bis Stuben; dort kehren wir zum Abendessen ein. Die Portion Käsespätzle habe ich mir verdient. Bevor ein Bus mit einem Krampfaderngeschwader anrückt, machen wir uns auf den Weg, und es folgt eine flotte Abfahrt bis Bludenz; ich bin letztendlich genauso schnell wie die Anderen, weil ich mich zwischendurch verfahre (bei Alfenz gibt es eine unklare Stelle).
In Bludenz ist die nächste Kontrolle; inzwischen ist es schattig, nur noch vereinzelt scheint die Abendsonne. Wir fahren gemeinsam dahin; leicht bergab und vielleicht mit Rückenwind kacheln wir mit über 30 dahin über Feldkirch (wo das Tal eine Engstelle hat) und Dornbirn nach Bregenz. Die letzten Sonnenstrahlen lassen die aufgeschlossenen Gesteinsschichten südlich des Pfänder rötlich glühen. Eine Weile später erreichen wir Bregenz mit der nächsten Kontrollstelle. Inzwischen wurde es dunkel; wir fahren weiterhin gemeinsam, weil die Streckenführung im Allgäu schwierig ist (da die Bundesstraße 12 streckenweise eine Autostraße und damit für Radler gesperrt ist) – es geht über kleine Nebenstraßen. Bis zur Grenze bei Hörbranz haben wir schon 500 m Höhe erreicht (Bodensee: 400 m), dann geht es weiter bis auf gut 700 m. Irgendwo hinter Meckatz beginnt es dann auch noch leicht zu regnen, und die Hügel wollen kein Ende nehmen. Über Röthenbach und Weitnau geht es parallel zur B 12, und dann nochmal bergauf – bis auf über 900 m. Ich habe das Allgäu zu hassen gelernt. Unser Trupp bolzt dahin wie geisteskrank; ich bin langsam ziemlich erschöpft, schaffe die Steigungen mit letzter Kraft, und bin teilweise kurz vor dem Einschlafen. Endlich, gegen 2 Uhr nachts, erreichen wir Kempten; der leichte Regen hate inzwischen aufgehört, und es geht auf steilen Serpentinen hinunter in die Stadt.
Nach einer längeren Erholung geht es weiter über Betzigau auf der B 472; kurz vor Marktoberdorf lassen wir endgültig abreißen – die anderen sind einfach zu schnell, wir fahren zu fünft als Schlusslichtgruppe. Während man sich auf langen Passstraßen einfach hocharbeiten kann, finde ich so eine Hügellandschaft viel anstrengender, weil die Schnellen die Hügel im Sprint bezwingen, und da kann man einfach nicht mithalten. Langsam haben wir alle unseren Tiefpunkt; es geht durch eine einsame Landschaft dahin, mit langgestreckten Hügeln, stockdunkel. Schlafen oder Kaffee trinken wäre jetzt angebracht.
Kurz vor Schongau wird es dann hell; langsam verschwindet die lähmende Müdigkeit, nicht aber die Erschöpfung. Wir umfahren den Ort auf der Umgehungsstraße, dann geht es rauf nach Hohenpeißenberg, und dann auf der steilen Abfahrt runter ins Ammertal. In Peißenberg findet sich dann eine offene Tankstelle; mit grauenhaften Hamburgern und miesem Kaffee, aber besser als garnix. Während die Sonne aufgeht, machen wir eine längere Pause. Mit den ersten Sonnenstrahlen geht es dann weiter über Huglfing, Bichl, Bad Heilbrunn (idyllischer See!), nach Bad Tölz (diesmal nicht durch die Stadt, sondern gleich auf der Umgehung zur Tankstelle). Dort treffe ich an der Kontrollstelle ein paar Fahrer wieder; einer meint: „So kaputt, wie ihr in Peißenberg ausgesehen habt, hätte ich euch erst in einer Stunde hier erwartet.“ Na immerhin. Fit bin ich immer noch nicht. Aber jetzt ist das Ende zumindest absehbar.
Zuerst geht es bergauf bis Waakirchen, dann weiter mit steilen Abfahrten und Anstiegen durch’s Mangfall-, Schlierach- (bei Miesbach) und Leitzachtal, und dann steht endlich die lange Abfahrt ins Inntal bevor. Wir warten noch auf Roman, der einfach nicht auftaucht; es stellt sich heraus, dass er sich verfahren hat und weiter nördlich fährt. Über Au und Pang erreichen wir Rosenheim. Jetzt sollte alles ganz einfach sein, laut Ankündigung unseres großen Meisters; entsprechend habe ich mich im Endspurt verausgabt, aber hinter dem Ziegelberg geht es vorbei am Simssee nach Prien am Chiemsee, und dort werde ich von den giftigen steilen Hügeln nochmal richtig fertig gemacht. Wir verfluchen Jörg. Am Ortsende flüchten wir dann noch schnell in einen McDonalds und futtern ein Eis, um die Ressourcen wieder aufzufüllen. Dann rollen wir locker über Bernau, Graussau, Marquartstein nach Unterwössen; unterwegs treffen wir auf einen anderen Fahrer, der mit uns gestartet war, aber seither verschwunden – er war wohl sehr flott unterwegs, denn er hat zwischendurch einige Stunden geschlafen, während wir nonstop durchgefahren sind. Kurz vor 14:00 kommen wir in Unterwössen an. Puh! Ich halte mich nicht lange auf, sondern radle gleich weiter nach Übersee zum Bahnhof (und vergesse fast mein Schloss am Parkplatz), und mit dem Zug geht es dann nach Grafing Bahnhof. Obwohl ich doch reichlich fertig bin, ist es auf den letzten Kilometern bis Ebersberg doch kein Problem, noch diverse Radfahrer zu versägen.
Fazit: Bis Bregenz war alles ok; der Arlberg war sehr steil, aber mit Geduld machbar. Das Allgäu war aber hart, erst recht zu dieser Zeit. Anschließend hätte ich vielleicht etwas schlafen sollen – nicht wegen Müdigkeit, sondern Erschöpfung. Die restliche Strecke ging entsprechend zäh, ich wollte nur noch ankommen, aber war zumindest nicht am Ende meiner Kräfte, ich hatte keine Pannen, keine Schmerzen ... was will man mehr nach so einer Entfernung?
Hierzu gibt es einen ganz langen Reisebericht.