Eines der Highlights für Randonneure ist die Flèche Allemagne – eine 24-stündige Sternfahrt zur Wartburg, wo man sich dann trifft. Die Regeln entsprechen dem französischen Vorbild, der Flèche Vélocio – Teams von drei bis fünf Leuten, die Strecke muss vorher eingereicht werden, und sie muss mindestens 360 km lang sein.
Im Februar ging es schon los mit den Planungen – wer kommt mit, welches Team hat noch einen Platz frei? Von München aus müsste man doch eine Mannschaft zusammenkriegen, dachte ich; hier wohnen schließlich einige Randonneure bzw. sonstige Radverrückte. Ein Liegeradteam gab es schon, aber die waren tatsächlich schon voll, und auch bei den Rennradlern war ich nicht erfolgreich. Reicht es vielleicht für ein eigenes Team? Überreden kann ich niemanden; bei einer solchen Entfernung muss jeder selber wissen, ob er das schafft.
Bei den Leuten vom Liegeradstammtisch wurde ich dann fündig. Jörg sagte zu, dann Roman, dann bekam ich noch Rainer vermittelt, und schließlich hörte Johann auch von uns und fragte, ob er dabei sein kann. Gerne!
Nächstes Problem: Die Strecke. Die Wartburg liegt ungefär 400 km von München entfernt, und das müsste in 24 Stunden zu schaffen sein, wenn die Strecke nicht zu bergig ist. Am Thüringer Wald kommen wir von Süden aus nicht vorbei; die restliche Landschaft ist weniger problematisch. Das Altmühltal liegt auch noch im Weg; am besten umfahren wir es im Westen durch das Nördlinger Ries, dann ersparen wir uns auch die Hügel bei Pfaffenhofen/Ilm (das Dachauer Hinterland ist etwas harmloser), nördlich davon geht es eh bergab zum Main, der den niedrigsten Punkt der Strecke darstellt. Soweit eine grobe Skizze; Rainer hat die Route noch detailliert ausgearbeitet, und dann kam noch eine längere Internet-Recherche nach geeigneten Kontrollstellen – speziell für die Nacht braucht man Tankstellen, die dann auch geöffnet haben, und von denen gibt es in manchen entlegenen Gegenden gar nicht so viele.
Am 1. Mai geht es dann los. Roman hat kurzfristig doch keine Zeit, daher starten wir zu viert. Johann war schon am Vorabend gekommen und hat bei mir übernachtet; morgens um kurz vor 9 Uhr treffen wir uns dann alle an der Tankstelle, lassen unsere Stempelkarten abstempeln, Jörgs Vater macht das Startfoto (und wird beauftragt, es gleich den Veranstaltern zu mailen), und wir fahren ab. Der Stadtrand ist bald erreicht, dann geht es durch das einsame Dachauer Moos. Nachdem es in den letzten Tagen regnerisch war, ist es heute trocken; zwischen den Wolkenbergen kommt sogar die Sonne durch, aber ein heftiger Westwind bläst uns entgegen.
Bei Bergkirchen kommen wir in das Dachauer Hügelland; gegen 11:00 Uhr sind wir dann in Aichach, wo uns eine gesperrte Straße zu einem kleinen Umweg zwingt. Dann kommt irgendwann der letzte Hügel, und wir sind unten im breiten Lechtal. Durch viele kleine Straßendörfer geht es zuerst auf der rechten, dann auf der linken Seite des Flusses nach Norden; der Wind hat nachgelassen, und es ist schön warm. Am Ortseingang von Donauwörth kommt dann eine Tankstelle, unsere erste Kontrollstelle, und wir machen eine kurze Pause.
Dann geht es durch Donauwörth (sehr hübsches Stadtzentrum!) nach Nordwesten; zunächst einmal längere Zeit bergauf, dann hinunter Richtund Harburg. Inzwischen hat es wieder zugezogen und es beginnt zu regnen; aber so wenig, dass man nicht wirklich nass wird. Am Ortseingang endet der Radweg schon wieder; wir fahren durch die Ortsmitte bergauf, die Sonne kommt wieder heraus und lässt die nassen Pflastersteine zwischen den Fachwerkhäusern unterhalb der prächtigen Burg glitzern.
Am Ortsende geht es wieder bergab; leider hat der Radweg viele rechte Winkel, so dass man oft abbremsen muss, während die Schnellstraße nebenan schnurgerade verläuft und uns bretteben nach Nördlingen bringt. Inzwischen tauchen schon wieder pechschwarze Wolken auf und wir rechnen damit, uns in den nächsten Sekunden irgendwo unterstellen zu müssen (zum Glück sind wir gerade nicht auf freiem Feld) – aber dann wird es doch wieder heller. Die Straßen sind nass, aber der Himmel hält dicht. Auf kleinen Straßen verlassen wir Nördlingen, die Sonne scheint – und im nächsten Dorf sehen wir dann Schneereste auf den Dächern. Hier muss es gerade heftig gehagelt haben! Wir haben echt Glück gehabt.
Ein Dorf weiter kommt eine unerwartet knackige Steigung; dann haben wir das Ries hinter uns gelassen. Bald treffen wir wieder auf die Bundesstraße aus Nördlingen, und machen bei Wilburgstetten den Fehler, dem Radweg zu trauen. Kurz darauf ziehen wieder dunkle Wolken auf, erst tröpfelt es, dann wird der Regen immer stärker. Wir haben Dinkelsbühl erreicht – aber anstatt uns unterzustellen, fahren wir bis in die Ortsmitte zur OMV-Tankstelle, unserer zweiten Kontrollstelle. Gerade will ich der Kassiererin erklären, was sie mit der Stempelkarte machen soll, da sagt sie: „Ich weiß schon bescheid!“ Vor ein paar Stunden war schon einmal eine Gruppe Randonneure hier – vielleicht unser anderes Liegeradteam aus München? Die sind in Heidenheim gestartet, haben also einen Vorsprung. Aber, wie sich später herausstellt, war es ein Team aus Stuttgart.
Während draußen die Welt untergeht, stärken wir uns. Während es noch schüttet, kommt schon wieder die Sonne heraus, und als es aufhört, machen wir uns auf den Weg. Die Wolken sind verschwunden, wir fahren auf der Romantischen Straße (das Schild hat auch eine japanische Beschriftung!) dahin, vorbei an Feuchtwangen, queren die Wasserscheide zwischen Donau und Main, dann kommt irgendwann eine Abfahrt ins Taubertal mit anschließender Steigung, und wir sind in Rothenburg. Die historische Altstadt lassen wir links liegen und fahren gleich zu unserer Kontrollstelle, wieder eine Tankstelle. Dort kauft sich Johann noch eine Warnweste – die ist bei Brevets nachts Pflicht. Nebenan ist eine Pizzeria; zwar etwas schäbig, aber egal, wir kehren zum Abendessen ein.
Nach einer guten Stunde machen wir uns wieder auf den Weg. Langsam geht die Sonne unter, und wir rollen dahin, mit kaum Verkehr. Eigentlich schon seit dem Ries sind wenige Autos unterwegs – zuerst waren es kleine Straßen, dann verlief die Autobahn parallel zur Bundesstraße. Es wird dunkel, ist aber immer noch angenehm warm und windstill, und abgesehen von ein paar sanften Hügeln geht es immer netto bergab Richtung Main, und bald erreichen wir Marktbreit. Vorbei am Bahnhof durchqueren wir die malerische Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern. Zu schade, dass es schon dunkel ist.
Dann sind wir unten am Main; an einer Tankstelle halten wir an und kaufen uns was zu trinken. Anschließend geht es am Main entlang; ich werde langsam müde; die paar Steigungen lassen mich jeweils etwas zurückfallen. In Kitzingen überqueren wir den Fluss, dann geht es auf der rechten Seite bis nach Dettelbach; ab dort geht es aufwärts, wir kürzen die Volkacher Mainschleife ab, und biegen dann Richtung Werneck ab. In der Ferne sieht man die Lichter von Schweinfurt, und direkt querab die Kühltürme von Grafenrheinfeld.
Direkt hinter der Autobahn, beim Autohof Werneck, haben wir unsere nächste Kontrolle. Und wir machen eine längere Pause. Langsam wird es kühl, daher tut ein Kaffee gut. Nachdem wir uns warm angezogen haben, brechen wir auf zur langen Nachtfahrt. Es geht schon zäher dahin als am Tag. Die Bundesstraße ist königlich ausgebaut, aber wegen der parallelen Autobahn ist kaum Verkehr – alle paar Minuten kommt mal ein Auto. Nachdem es lange Zeit flach dahin lief, kommt schließlich eine Senke mit Baustelle (zwischen den ganzen rot-weißen Baken fühlt man sich als Liegeradler recht verloren, wenn ein Auto kommt), und anschließend eine lange Abfahrt ins Lauertal bei Münnerstadt.
Dort warte ich an der Abzweigung, bis wir wieder vollständig sind; Jörg meldet an, dass er gerne eine Tankstelle hätte, wo er sich aufwärmen kann. Aber hier ist alles dunkel und geschlossen; fahren wir weiter nach Bad Neustadt. Dort gibt es zwar diverse Tankstellen, aber auch hier sind die Bürgersteige hochgeklappt, alles ist zu. Das GPS kennt noch einen McDonald’s, aber selbst der ist zu. Sogar bei der Sparkasse ist der Geldautomaten-Vorraum während der Nacht geschlossen; aber es gibt noch eine Postbank, wo wir rein können. Geheizt ist der Vorraum zwar nicht, aber immer noch besser als die Kälte draußen. Es hat nur noch wenige Grad über null.
Nach einer knappen Stunde machen wir uns wieder auf den Weg. Kalt ist es immer noch; zitternd steige ich aufs Rad und trete ordentlich rein, damit mir warm wird. Langsam wird es hell; auch der Verkehr erwacht, die ersten Laster sind unterwegs. Wir kommen nach Mellrichstadt; dahinter beginnt die Steigung. Bis Eußenhausen geht es ordentlich bergauf, und danach wird es richtig steil. Trotz kaum Gepäck kämpfe ich mich im ersten Gang nach oben und muss die Zähne zusammenbeißen, um nicht abzusteigen. Endlich bin ich oben, am ehemaligen Wachturm der DDR-Grenze; Rainer und Johann waren etwas schneller, und auf Jörg müssen wir einige Minuten warten. Dafür ist es jetzt hell, und in der Ferne entwickelt sich das Morgenrot.
Dann kommt die Abfahrt. Kalt. Vor allem, weil im schattigen Tal noch die kalte, feuchte Luft hängt. Dazu kommen noch ein paar unangenehme Wellen. Schließlich sind wir vor Meiningen. Dort treffen wir auf einen Randonneur aus Österreich; der hat es aber eilig, weil er seinem restlichen Team hinterherjagt. Meiningen ist dann eher unangenehm, weil jetzt – gegen halb sieben Uhr – der Berufsverkehr erwacht; und mit den gequälten Muskeln macht Stop-and-Go mit zahlreichen Ampeln keinen Spaß. Außerdem sind wir spät dran. Bis Neustadt waren wir leicht vor unserem Zeitplan, aber das Aufwärmen und die Rhön haben viel Zeit gekostet. Daher fahren wir schon einmal zu, damit wenigstens wir drei pünktlich im Ziel sind (wie es das Reglement verlangt); Jörg kann nachkommen.
Kaum haben wir Meiningen verlassen, fängt es auch noch zu regnen an. Nur ganz leicht, aber die Stimmung hebt es nicht. Endlich kommt Niederschmalkalden (der Regen hat wieder aufgehört); dahinter, an der Tankstelle in Fambach, haben wir Kontrollstelle. Eigentlich wollten wir vor sieben Uhr hier sein, aber jetzt ist es schon fast halb acht. Den Österreicher haben wir auch wieder getroffen, er hatte hier auch Kontrolle. Über Handy gibt es noch die Anweisung an Jörg, wo die Kontrolle ist, dann geht es weiter. Gegen 8:00 Uhr sind wir hinter Barchfeld, die Steigung auf den Thüringer Wald beginnt. Wieder haben wir den Österreicher eingeholt; er kämpft, aber ist sichtlich am Ende seiner Kräfte. Wie ich auch. Zäh arbeite ich mich nach oben, auf der engen Straße mit relativ viel Verkehr; Rainer und Johann sind wieder außer Sicht. Eine halbe Stunde später bin ich oben, zumindest glaube ich das. Ich muss mich kurz ausruhen und abkühlen; die Sonne scheint jetzt, und mir ist gut warm in meiner Kleidung.
Der Österreicher zieht vorbei; aber bald kommt eine Abfahrt, wo ich ihn wieder einhole. Und dann noch so eine verdammte endlose Steigung! Endlich, um Viertel vor neun Uhr, kommen Schilder „Rennsteig“ und „Hohe Sonne“ – von meiner Radtour vor acht Jahren weiß ich, dass das definitiv der höchste Punkt ist (damals habe ich – mit viel Gepäck – viereinhalb Tage bis hier gebraucht!). Es ist gerade kaum Verkehr, und so kann ich ungestört hinunterkacheln. Ein Schild in Frakturschrift sagt mir, dass ich in Eisenach bin, und bald darauf kommt die Abzweigung zur Wartburg. Es sind noch 10 Minuten bis zum Zeitlimit um 9:00 Uhr. Rainer und Johann warten schon. Gemeinsam kämpfen wir uns bergauf – die Auffahrt ist im unteren Teil sausteil, ich muss schieben. Auf dem flacheren Stück kann ich wieder etwas fahren, aber die letzten Meter muss ich wieder schieben, schwitzend und mit einem Puls jenseits von Gut und Böse. Endlich oben! Kurz nach neun Uhr, aber noch rechtzeitig, um die Kontrollkarten abzugeben!
Dann erst einmal Hallo an alle Bekannte. Und endlich Zeit, die Regenüberhose und Fleece-Jacke auszuziehen – es ist windig, aber nicht kalt, und die teilweise bedrohlich dunklen Wolken ziehen vorbei. Ich mache noch einen Spaziergang durch die Burg; als ich zurück komme, ist auch Jörg angekommen, trotz Knieschmerzen hat er sich durchgekämpft!
Inzwischen haben die meisten Radler die Burg verlassen; wir machen uns auch auf den Weg. Sausteil über teilweise noch regennasses Pflaster nach unten. Ich will uns vom GPS zum Stadion führen lassen, wo es eine Dusche gibt; aber der direkte Weg führt durch die Innenstadt, wieder sehr steil über Kopfsteinpflaster dahin. Nein, lieber einen Umweg; durch das Nikolaitor, unter der Bahn durch, und dann am Sportgelände die Duschen suchen. Irgendwann finden wir sie. Unsere Träume von einer warmen Dusche werden jäh zerstört – nach über hundert Randonneuren ist das Wasser eiskalt. Zum Glück scheint die Sonne. Statt lange herumzustehen, machen wir uns dann bald auf den Weg zum Mittagessen im Bürgerhaus; vor dem Eingang sind schon etliche Fahrräder abgestellt, und nach ein paar knappen Worten von ARA-Chef Claus Czycholl ist das Buffet eröffnet!
Als nach einer Stunde die Schlangen kürzer werden, kommt die Siegerehrung. Einen wirklichen Sieger gibt es diesmal nicht, weil drei Teams recht ähnliche Leistungen vollbracht haben – rund 600 km in 24 Stunden. Wir sind mit unseren 430 km im Mittelfeld; aber was zählt, ist, dass wir es geschafft haben (wir sind alle an unsere Limits gegangen), und als Team auch ziemlich gut zusammengespielt haben.
Während das andere Münchner Liegeradteam übernachtet und morgen heimradelt, wollen meine Leuten gleich heute noch in den Zug steigen. Na gut, dann ich auch – eine Rückfahrt mit dem Rad würden meine Beine sowieso noch nicht mitmachen. Mit uns fahren noch andere Randonneure mit dem Zug; entsprechend müssen wir die Räder sorgfältig einräumen, damit alle in den Zug passen. Kurz nach der Abfahrt bin ich schon eingeschlafen. In Gerstungen müssen wir umsteigen; nach der Durchfahrt einer Dampflok erwartet uns ein Neigezug, der uns flott nach Schweinfurt bringt – und zeigt, dass wir die Rhön auch deutlich flacher hätten überqueren können als auf der Bundesstraße. Schließlich erreichen wir über Nürnberg am Abend München – weitgehend schlafend. Das war schon anstrengend – aber auch ein Erlebnis!
(Download der obigen Karte als PDF)