Einen Fotoapparat zu bedienen ist einfach. Gute Fotos zu machen jedoch nicht. Weil die Beweggründe, Motive und Umgebungsbedingungen so unterschiedlich sein können, kann es keine universellen Rezepte geben. Aber man kann versuchen, typische Fehler zu vermeiden und sich ein paar grundlegende Gedanken vorher machen. Hier sind meine Überlegungen.
Fotografie hat den Ruf, die Realität abbilden zu können, ungefiltert von beispielsweise der Interpretation und Pinselführung des Künstlers. Das ist aber nicht die Wahrheit – denn die Realität ist sehr vielschichtig, und wenn man sieht, welche Informationen die Fotografie weglässt, kann man ihre Fähigkeiten besser einschätzen:
Perspektive: Ein Foto zeigt immer nur eine zweidimensionale Projektion einer Szene; die komplette räumliche Information fällt weg (und kann vom Betrachter nur interpoliert werden).
Zeit: Ein Foto ist statisch; Bewegungsabläufe können nur angedeutet, aber nicht abgebildet werden.
Motivwahl: Der Fotograf kann frei entscheiden, was er in den Mittelpunkt rückt und was er weglässt. Ein Betrachter nimmt dagegen immer an, dass die ihm dargebotene Auswahl von Fotos repräsentativ ist – nicht unbedingt für die Gesamtmenge aller fotografierbaren Objekte, aber für die Motive, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen.
Zusatzinformationen: Auch wenn ein Foto ein perfektes Bild liefert, fehlen dabei sämtliche Zusatzinformationen – ein Live-Betrachter kann sich beliebig umschauen (= Überblick), er nimmt Geräusche und Gerüche wahr, er spürt die Stimmung, und er hat möglicherweise weitere Zusatzinformationen (z.B. gehört oder gelesen), welche dem Betrachter des Fotos fehlen. Der Fotograf weiß vorher, was er abbilden will, und macht ausgehend von dieser Absicht das Foto; der Betrachter dagegen muss aus dem Foto erraten, was ihm gezeigt werden soll.
Vorgeschichte und Ablauf: Der Betrachter des Fotos kennt weder die Vorgeschichte noch den zeitlichen Ablauf. Wenn das Bild nicht für sich selbst spricht, kann er es nicht einordnen.
Kultureller Kontext: Der Betrachter hat ein anderes Weltbild, ein anderes Vorwissen und andere Vorurteile als der Fotograf, er hat also beim selben Motiv möglicherweise unterschiedliche Gedanken.
Generell: Je weniger eindeutig die Aussage eines Fotos ist, desto mehr Raum für Interpretationen lässt es. Der Betrachter spürt dabei kein „Informationsvakuum“ – die Informationen, die ihm das Foto nicht unmissverständlich vorschreibt, ergänzt er aus seinen Vorstellungen (Vorurteile, Phantasie) und kommt nicht auf die Idee, dass der Fotograf an etwas ganz Anderes gedacht haben könnte. Es ist also ein Irrtum, dass ein Foto „die Realität“ objektiv festhalten kann – das kann ein Foto genausowenig wie ein Live-Betrachter; dieser kann jedoch all seine Beobachtungen und Empfindungen kombinieren, während der Foto-Betrachter mit sehr bruchstückhaftem Material auskommen muss.
Ein weiterer Punkt: Ein Foto ist immer die untrennbare Summe aus Motiv, Beleuchtung und Umgebungsbedingungen (z.B. Nebel). Es kann also niemals erklären, wie etwas aufgebaut ist und aus was es besteht – das können nur Worte oder Baupläne.
Fotos können ...
Beschreibungen auf den Punkt bringen: Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Wie gesagt, ein Foto kann einen Gegenstand nicht erklären – es kann jedoch eine Erklärung ideal ergänzen, indem es auf einen Blick zeigt, wie das beschriebene Objekt aussieht (im Moment der Aufnahme), ohne das Aussehen bis ins letzte Detail erläutern zu müssen.
Erinnerungen bewahren: Ein Mensch kann zwar Bilder sehen, aber er interpretiert sie gleichzeitig; und was er sich merkt, sind die Kerndaten dieser Interpretation. Alle restlichen Details werden weggelassen und bei Bedarf abgeschätzt – das Ergebnis mag plausibel sein, ist aber verfälscht. Ein Foto beinhaltet keine Interpretation, aber bewahrt das Aussehen (zum Zeitpunkt der Aufnahme und durch die verwendete Optik gesehen) unverfälscht.
Dunkles hell machen: Das menschliche Auge verliert bei Dunkelheit seine Fähigkeit, Farben zu sehen. Erst bei einer Langzeitbelichtung des Nachthimmels erkennt man, dass Sterne, die mit bloßem Auge weiß erscheinen, in Wirklichkeit sehr farbig sind.
Schnelles sichtbar machen: Ein Beispiel hierfür ist der Flug einer Gewehrkugel, den man mit dem bloßen Auge nicht beobachten kann, oder auch ein auftreffender Wassertropfen, oder die historische Frage, ob ein Pferd im Galopp alle vier Beine in der Luft hat, welche nur mit einem Foto geklärt werden konnte.
Langsames sichtbar machen: Die Lichtstreifen von Autoscheinwerfern in einer Langzeitbelichtung sind ein Beispiel für etwas, was man mit bloßem Auge nicht sehen kann, weil es zu langsam passiert.
Entfernungen stauchen und dehnen: Mit Weitwinkel und Tele kann man Vorder- und Hintergrund näher zusammenrücken oder weiter auseinanderziehen, als die Ansicht mit dem Auge ermöglicht.
Bilder von Stimmungen entkoppeln: Auch wenn Fotos meistens dazu gedacht sind, Gefühle hervorzurufen und Assoziationen zu wecken, bieten sie auch die Möglichkeit, Motive „nüchtern“ zu betrachten, unabhängig von der Stimmung, die bei der Aufnahme herrschte.
Blickwinkel vorgeben: Obwohl die Augen eines Menschen permanent Bilder empfangen, werden diese nur gelegentlich bewusst wahrgenommen und interpretiert und noch viel seltener gespeichert. Ein Foto zeigt ein Bild aus einer bestimmten Perspektive und zwingt den Betrachter, genau diese Ansicht zu interpretieren, die er möglicherweise nie bewusst wahrgenommen hätte.
Sichtweisen zeigen: Nicht nur der Blickwinkel kann durch ein Foto vorgegeben werden; wenn beispielsweise der Fotograf die Objekte im Vordergrund mit denen im Hintergrund in Verbindung bringen will, kann er ein Tele-Objektiv verwenden, wodurch im Bild die normalerweise unauffällig kleinen Hintergrund-Objekte vergrößert und näher an den Vordergrund herangerückt werden, was ihnen mehr Aufmerksamkeit bringt. Mit Kontrasten und Schärfe kann Ähnliches erreicht werden.
Weltbild vermitteln: Mit der Auswahl der Fotos, den fotografierten Motiven, den Blickwinkeln und Sichtweisen, den geweckten Gefühlen und Assoziationen kann der Fotograf in der Summe eine bestimmte Sichtweise der Welt vermitteln, die sich auf anderem Wege (z.B. mit Worten = mit vorgegebener Interpretation) kaum transportieren ließe.
Die vorangegangenen Punkte zeigen, dass das Fotografieren ein bewusster Vorgang ist; Fotos können aussagekräftig sein, müssen es aber nicht – sie sind dann jedoch uninteressant für den Betrachter, weil seine Aufmerksamkeit nur bei Aussagen/Andeutungen geweckt wird.
Wichtig sind starke, einfache Motive. Nicht unbedingt einfach zu interpretieren, sondern einfach zu erkennen – keine Suchbilder machen! Der Betrachter (dem, wie oben erwähnt, viele Zusatzinformationen fehlen) muss auch ohne Vorwissen verstehen können, was abgebildet ist; Erklärungen sollten nur ergänzend sein (z.B. wie es zu dem Motiv gekommen ist). Ein Foto ist dann gut, wenn man von seinem Inhalt nichts mehr weglassen könnte, ohne seine Aussage zu verlieren.
Nicht nur das Aufsehen erregende fotografieren, sondern auch mal alltägliche Szenen – wenn sie sich einem ausdrucksstarken Bild einfangen lassen. Als Fotograf denkt man nämlich oft zu egoistisch und knipst nur das, was die meiste Aufmerksamkeit erregt – aber andere Leute könnten auch andere Dinge interessieren, und zu einem späteren Zeitpunkt könnte man selber an diesen Dingen interessiert sein. Die großen Sehenswürdigkeiten werden nämlich oft fotografiert, aber die alltäglichen Kleinigkeiten verändern sich heimlich, leise und oft unbemerkt.
Nicht nur das Schöne fotografieren, sondern auch das Hässliche kann oft sehr ausdrucksstark sein, wenn man es treffend abbildet. Fotos dienen nicht nur dazu, schöne Erinnerungen zu bewahren, sondern vor allem, um Aussagen zu transportieren. Es ist ähnlich wie in der Mode: Das Foto muss nicht schön aussehen, es darf nur nicht nichtssagend sein.
Nicht nur die typischen Postkartenansichten fotografieren, sondern auch mal ungewöhnliche Perspektiven – wie etwas „auf dem Präsentierteller“ aussieht, ist vielen Leuten bekannt; nicht jedoch, wie es aussieht, wenn man direkt davorsteht und herumgehen kann. Mit ein paar Fotos aus ausreichend verschiedenen Perspektiven (d.h. die nicht nur das Objekt selber, sondern auch die Umgebung zeigen), kann sich ein Betrachter viel besser vorstellen, wie etwas in Wirklichkeit aussieht.
Nicht immer „alles“ in einem Bild fotografieren wollen, denn das lässt wichtige Details zu klein und damit zu nebensächlich und somit das Foto zu wenig aussagekräftig werden. Lieber stellvertretend wichtige Stellen deutlich abbilden und darauf vertrauen, dass der Betrachter den Rest aus seiner Phantasie ergänzt.
Nicht immer nur das Geplante, sondern auch das Zufällige fotografieren. Es steckt sehr viel Aussage in Zerfallserscheinungen, in Patina, in Chaos – denn diese Dinge sind etwas versteckt, aber zeigen unverfälscht, was passiert, wenn man die Dinge sich selbst überlässt oder wenn man eine Momentaufnahme davon macht, wie sich etwas eingependelt hat, statt arrangiert worden zu sein. Es sind Zeichen von Prozessen, die zwar nicht an sich spektakulär sind, die aber viel Zeit erfordern und die man kaum künstlich herstellen kann – seien es nun verstreute Blätter im Herbst, schmelzende Schneereste im Frühling, eine halb eingestürzte Scheune im Moor, das Chaos in einer unaufgeräumten Werkstatt, oder die Unordnung nach einer Feier.
Nicht nur das leicht Erkennbare fotografieren, sondern auch einmal bizarre Details aus dem Kontext reißen und dadurch isoliert in den Mittelpunkt rücken. Auch ein extremer Blickwinkel kann dazu beitragen, aus einem gewöhnlichen Motiv ein ungwöhnliches Foto zu machen. Fotografie soll nicht nur größere Zusammenhänge dokumentieren, sondern kann auch kleine kuriose Details und Perspektiven, die nichts zur Sache tun, präsentieren.
Nicht nur die „harten Fakten“ fotografieren; Fotos sollen oft Gefühle und Erinnerungen transportieren, und das geschieht nicht nur mit Szenen, die das Äußere treffend beschreiben, sondern auch mit Motiven, die irgendwelche Kleinigkeiten abbilden, die typisch sind und stellvertretend für die gesamte Stimmung.
Um ein ausdrucksstarkes Motiv zu erhalten, braucht man einen Kontrast. Neben den bekannten sieben Farbkontrasten gibt es noch weitere Möglichkeiten, zum Beispiel scharf–unscharf oder Kontraste der Formen. Auch die Aussagen können kontrastieren; beispielsweise zeigt das Pressefoto des Jahres 2006 eine Gruppe junger Libanesen mit schicken Sonnenbrillen und Mobiltelefonen, die in ihrem Cabrio auf Sightseeingtour durch das zerbombte Beirut fahren.
Nicht alles eignet sich als Fotomotiv; entsprechend ist es normal, dass man nicht jeden Tag gleich viel fotografiert. Auch die Bedingungen schwanken; bei schlechter Beleuchtung ergeben sich weniger ausdrucksstarke Motive. Und nicht immer nimmt man gleich viele interessante Motive wahr, die persönliche Aufmerksamkeitsschwelle schwankt. Da man nicht auf Befehl gute Fotos machen kann – außer, man kennt das Motiv bereits und kann in einem Fotostudio sämtliche äußere Parameter kontrollieren – wird die Fotofrequenz von Gelegenheitsfotos stark schwanken.
Nicht zuletzt: Man fotografiert nie „das Objekt“ selbst, sondern das Licht, das von ihm ausgesandt wird. Die Beleuchtung muss also stimmen! Während man kleine Gegenstände im Fotostudio entsprechend ausleuchten kann (was auch eine Kunst ist), scheitert das spätestens bei Häusern und Landschaften. Man kann also höchstens warten, bis das passende Licht kommt (z.B. die Sonne scheint, und zwar aus der richtigen Richtung). Während ein Beobachter die unterschiedlich beleuchteten Teile eines Hauses einzeln anschauen und sich daraus im Kopf sein Gesamtbild zusammenbauen kann, muss für ein Foto die Beleuchtung gleichmäßig sein – gerade bei Nachtaufnahmen heißt das: Wenn keine ausreichende künstliche Beleuchtung vorhanden ist, ist ein Foto kaum möglich. Umgekehrt: Durch eine gezielte Beleuchtung sind Kontraste (und damit eine Ausdrucksstärke) möglich, die mit natürlichem Licht nicht zu erreichen sind.
Neben technischer Ausstattung, Interesse und künstlerischer Ausdrucksweise machen vor allem die richtige Zeit und der richtige Ort ein gutes Foto aus. Warum also nicht neidlos die so unerreichbar scheinenden Werke der Anderen bewundern?