Man bekommt den Eindruck, dass Erziehung etwas unglaublich Schwieriges sein muss, eine Kunst, die viele Regeln benötigt und für das man viele „vorgefertigte Rezepte“ und Zaubertricks braucht. Gleichzeitig ist es etwas, von dem jeder behauptet, es intuitiv zu beherrschen; jeder macht es von seinem subjektiven Standpunkt aus automatisch richtig, wenn er die seiner Meinung nach richtigen Regeln anwendet und vermittelt. Zumindest hört sich die Vorstellung von Erziehung in den diversen Medien und in den „Stammtischansichten“ vieler Eltern so ähnlich an.
Kindererziehung ist eine spannende Sache – weil es darum geht, den egoistischen Willen des Kindes teilweise durch den Willen der Gesellschaft zu ersetzen. Daraus ergibt sich nämlich die Frage: Was von unseren Vorstellungen stammt wirklich von uns selber (aus unseren Überlegungen und Erfahrungen), und was wurde uns anerzogen? Wie läuft Erziehung heute ab, und wie sollte sie im Idealfall ablaufen? Im Folgenden ein paar Gedanken dazu.
Ziel: Kinder sollen lernen, im Leben zurecht zu kommen.
Es gibt allerdings eine Unzahl verschiedener Wege, um durch das Leben zu gehen, die alle mehr oder weniger gleich gut funktionieren – auch wenn die Meinung vorherrscht, man müsse das Kind in eine bestimmte Richtung zwingen.
Sinn der Erziehung ist damit, dem Kind einen dieser Wege zu vermitteln. Das Kind soll sich an die herrschenden Verhältnisse gewöhnen und mit ihnen zurechtkommen können.
In der Praxis bedeutet das meist, dass nicht abstrakte Prinzipien vermittelt werden, sondern vor allem Gewohnheiten, die erfahrungsgemäß funktionieren. Die so genannte „Mentalität“ einer Gesellschaft ist darum in Wirklichkeit nicht eine „Denkweise“, sondern eigentlich die Summe der Gewohnheiten, die in einer Gesellschaft vorherrschen und tradiert werden. (Diese Gewohnheiten beeinflussen allerdings die Denkweise, weil man es nicht anders kennt.)
Die möglichen Lebenswege sind gesellschaftlich unterschiedlich gut akzeptiert, obwohl sie sich moralisch oft gar nicht so sehr unterscheiden – denn kein Mensch kann vollkommen uneigennützig leben. Ein rücksichtsvolles Verhalten wird lediglich in manchen Lebensbereichen eher erwartet als in anderen und ein Verstoß dagegen entsprechend stärker geächtet – ebenso wie Rücksichtslosigkeiten in manchen Bereichen (z.B. Karriere, Sport) durchaus akzeptiert sind.
Aber selbst wenn ein Lebensweg (also die Summe der Gewohnheiten) gesellschaftlich geächtet wird – funktionieren kann er deshalb trotzdem. Sehr treffend ist dazu die Aussage: „Niemand mag ein Arschloch, aber jeder hört ihm zu.“ Wenn sich also jemand stets wie ein Arschloch verhält, kann er damit trotzdem gut durchs Leben kommen. Das bedeutet: Wenn ein Mensch im Leben gut zurecht kommt und für seinen Erfolg bewundert wird, heißt das noch lange nicht, dass er sich gesellschaftskonform verhält und als Vorbild dient.
Das Ziel von Erziehung ist damit letztendlich, dem Kind nicht nur aufzuzeigen, wie es im Leben zurecht kommt, sondern vor allem wie das mit möglichst wenig Rücksichtslosigkeit geht.
Erziehung ist immer eine Kombination: Durch Vorschriften und Vorbilder/Wünsche schreibt man dem Kind ein Ziel vor; aber durch das Verhalten, das das Kind bei seinen Mitmenschen sieht (also bei seinen Eltern und später vor allem bei seinen Freunden und Schulkameraden), lernt es Wege, um die Vorschriften und Ziele umzusetzen, und Auswege, um dem Druck zu entgehen.
Wenn man sehr streng ist, dem Kind unrealistische Ziele vorschreibt und diese rücksichtslos einfordert, wird das Kind entsprechend Wege finden, sich daran anzupassen – es wird die Vorschriften de jure erfüllen, ohne sich über die dahinter steckenden Gründe Gedanken zu machen oder Rücksicht auf seine Mitmenschen zu nehmen (d.h. den Druck weitergeben).
Ähnliches passiert, wenn man nicht mit Vorschriften arbeitet, sondern mit Anreizen und Zielvorgaben. Auch in diesem Fall ist das Ziel dominierend, nicht der Weg dorthin – entsprechend muss man sich nicht wundern, wenn das Kind zu einem opportunistischen Schwein wird, das den kürzesten Weg nimmt, um die Vorgaben zu erfüllen.
Man kann also nicht nur durch sehr autoritäres Verhalten, sondern auch durch Bestechung dafür sorgen, dass das Kind keine eigenen Vorstellungen entwickelt, sondern sich als Wendehals den herrschenden Bedingungen anpasst.
Das Gegenteil ist ein antiautoritäres Verhalten: Hier gibt es keine Vorschriften; das Kind kann sich verhalten, wie es will. Entsprechend wird es eine sehr gute Vorstellung davon entwickeln, was es selber will – und nicht, wie man äußere Anforderungen umsetzt.
Wie sich die jeweiligen Vorgaben auf das Verhalten des Kindes auswirken, hängt auch vom Charakter
des Kindes ab: Hat es einen schwachen Charakter, wird es sich bei autoritärem Verhalten stark anpassen; hat
es einen starken Charakter, wird es die Freiheiten antiautoritärer Erziehung übermäßig
ausreizen.
Das Verhalten des Kindes hängt dabei nicht nur vom (vermutlich angeborenen) Temperament ab, sondern auch
von den individuellen Prioritäten; manchen ist es wichtiger, Kritik und Strafe zu vermeiden, andere legen
eher Wert darauf, ihre eigene Vorstellung soweit wie möglich durchzusetzen.
Erziehung muss also immer individuell sein; es gibt weder Regeln, die für alle Situationen, noch
für alle Kinder gelten.
Erziehung funktioniert prinzipiell auch bei Jugendlichen und Erwachsenen (warum auch nicht?); allerdings sind kleine Kinder deshalb so empfänglich dafür, weil sie noch keinen Weg gefunden haben, um durch das Leben zu kommen. Sobald einmal ein Weg gefunden wurde, der „funktioniert“, ist es schwierig, den zu ändern – vor allem, weil damit eine gewisse Selbstsicherheit verbunden ist, die niemand wieder aufgeben will.
Nicht zuletzt: Man lehrt nicht durch die Inhalte, die man vermittelt, sondern auch durch sein Verhalten währenddessen. Wer beispielsweise dem Kind etwas vorschreibt, ohne auf dessen Vorstellungen und Bedürfnisse zu achten, zeigt ihm damit unterschwellig: Es gilt das Recht des Stärkeren.
Der Unterschied zwischen autoritärer und antiautoritärer Erziehung ist: Bei der einen lügt man dem Kind vor, man wüsste alles und hätte alles im Griff; bei der anderen lügt man dem Kind vor, es könne alles selber und sei nicht auf seine Mitmenschen angewiesen.
Man sollte also keine Scheinwelt aufbauen, wie man sie gerne hätte, sondern dem Kind vor allem eine funktionierende soziale Rückkopplung zu bieten – es soll die Möglichkeit haben, Dinge zu testen und die Reaktion darauf zu spüren und so Erfahrung zu sammeln.
Gute Erziehung könnte man entsprechend formulieren als: Zeige dem Kind, was im Leben wichtig ist und wie man diese Dinge erreichen kann, aber sei dabei vor allem ehrlich.
Diese Ehrlichkeit erfordert folgende Dinge: Erstens, ermögliche dem Kind den Kontakt zur Realität, anstatt
ihm eine Scheinwelt zu präsentieren – denn die Realität ist per se weder gut noch schlecht,
es gibt immer zwei Seiten der Medaille; es kommt vor allem darauf an, wie man damit umgeht.
Zweitens: Sei konsequent; lasse die Dinge also nicht jedes Mal in einem anderen Licht erscheinen.
Drittens: Lass das Kind die Konsequenzen seines Handelns selber tragen, seine Fehler selber erkennen und
korrigieren. (Aber biete deine Unterstützung an.)
Der Sinn davon ist: Das Kind braucht Chancen, um seinen Weg selber zu finden. Es ist eine Illusion, alles planen und vorhersehen zu können; vieles im Leben ist komplexe Interaktion, die man nicht einfach mit „wenn ... dann“ beschreiben kann. Oder wie Albert Camus sagt: „Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln.“ Ein Erwachsener handelt vor allem aus Gewohnheit – von einem Kind, das Kind sein darf, verlangt man das aber nicht, sondern gesteht ihm Schwäche zu.
Erziehung heißt also: Gib dem Kind einen Kredit (in Form von Unterstützung und Freiheit), damit das Kind ihn in Erfahrung investieren kann und beweisen kann, wie es mit Problemen umgehen will – statt sich durch Zwangssituationen lenken lassen zu müssen. Lernen heißt, sich Dinge erst einmal anschauen zu können und Schwäche zeigen zu dürfen, statt auf alles eine möglichst einfache Antwort parat haben und diese durchsetzen zu müssen.
Biete dem Kind mögliche Ziele und Perspektiven. Nicht als Zwang; aber vieles ist besser zu verstehen, wenn man ein Vorbild hat. Für ein Kind wirken sich Rückschläge und Krisen viel dramatischer aus als für Erwachsene, weil ihnen die langfristige Erfahrung fehlt, wie der Normalfall ist und wie man die Dinge dazu in Relation setzen muss – die Erfahrung sorgt für mehr Gelassenheit. Gib dem Kind Vertrauen, an Gesetzmäßigkeiten und Begründungen zu glauben, statt sich entmutigen zu lassen, wenn es kurzfristig anders zu laufen scheint.
Abstrakte Prinzipien wie beispielsweise religiöse Gesetze sind immer ein zweischneidiges Schwert. Einerseits können sie eine Stütze im Leben sein und eine Perspektive geben, um Krisenzeiten zu überbrücken und damit vor kurzsichtigen Reaktionen schützen. Andererseits können sie genauso auch Rücksichtslosigkeiten rechtfertigen – entscheidend ist, damit umgehen zu können, und stets die Folgen seines Handelns zu verstehen und zu verantworten.
In der Gesellschaft zurecht zu kommen, ist wahrscheinlich das wichtigste Ziel der Erziehung, aber nicht das einzige. Wichtig finde ich auch, dass das Kind lernt, wie es kritisch über seine Denk- und Verhaltensweisen nachdenken und diese überprüfen kann – sich also letztendlich Feedback aus der Realität holt, statt nur an seine Vorurteile und noch so plausible Berichte vom Hörensagen zu glauben. Außerdem ist eine große Spannweite im Denken wichtig; das Kind soll lernen, sowohl auf die kleinen Details achten zu können, als auch, weitsichtig die Dinge im Gesamtzusammenhang zu sehen.
Am häufigsten passiert wohl, dass Kinder zu etwas gezwungen oder verführt werden, anstatt ihnen eine freie Entscheidung zu ermöglichen.
Oft lehrt man dem Kind Verhaltensweisen und Äußerlichkeiten; man zeigt ihm, wie es sich in Gegenwart Anderer zu verhalten hat und wie es das Verhalten Anderer gesellschaftskonform zu interpretieren hat – statt entdecken zu lassen, was es selber will und braucht. Man lehrt also quasi das Kind, andere Leute zu beurteilen, statt sich selber – wobei ein Mensch über sich selber doch am besten Bescheid weiß.
Man nimmt das Kind nicht ernst; manchmal scheint das Motto zu lauten: Die beste Vorbereitung auf das Leben ist, das Kind auf alle denkbaren Arten zu verarschen, dann hat es das alles schon einmal kennen gelernt. Ich glaube, das ist so ungefähr der Grund, warum man Kindern solchen Unsinn wie Weihnachtsmann und Osterhase erzählt, denn eine echte Notwendigkeit gibt es dafür nicht.
Man setzt das Kind unter Druck und gibt ihm gleichzeitig viel Selbstbewusstsein, so dass es den Druck weitergeben kann. Dabei wäre es besser, ihm Bescheidenheit zu lehren und gleichzeitig das Vertrauen und die Ausdauer, um schwierige Situationen zu meistern.
Man vergleicht gerne anhand oberflächlicher Merkmale. Ein erfolgreiches Kind muss eine gute Erziehung erlebt haben, bzw. eine gute Erziehung macht Menschen automatisch erfolgreich, wird angenommen. Obwohl es da vermutlich eine statistische Korrelation gibt, sind diese Dinge unabhängig voneinander; man muss damit rechnen, dass ein erfolgreicher Mensch sich als Vollidiot herausstellt, aber trotzdem gut durchs Leben kommt.
Unterstützung sollte dazu dienen, dem Kind die Möglichkeit zu geben, in Erfahrung zu investieren – statt damit anzugeben oder dominant gegenüber anderen Kindern aufzutreten.
Anstatt dem Kind Schwächen zuzugestehen und ihm die Chance zu geben, zu lernen, damit umzugehen, versucht man, ihm die oberflächlichen Angriffspunkte abzutrainieren und hält den Druck aufrecht.
Oft konzentriert man sich auf Details und Oberflächlichkeiten. Sei es nun das „richtige“ Spielzeug oder nicht zu viel Fernsehkonsum – viel wichtiger ist eigentlich, dass Kind als Mensch zu respektieren, zusammen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen. Ein Mensch hat viele Bedürfnisse; es hilft nicht, wenn man nur eine Sache immer richtig macht, sondern man muss vor allem um jene Sachen kümmern, die das Kind am dringendsten braucht.
Wenn Strukturen für Kinder geschaffen werden, nimmt man immer an, dass diese perfekt funktionieren würden und Probleme nur von den Kindern herrühren. Aber oft läuft es nicht so, wie gedacht; beispielsweise wird es schlechte Lehrer oder unfähige Betreuungspersonen immer geben. Dann ist es wichtig, dass die Kinder einen gewissen Freiraum haben, um diesen Einflüssen so gut wie möglich ausweichen zu können, statt ihnen komplett ausgeliefert zu sein.
Viele Leute halten eine autoritäre Erziehung für richtig, so lange diese gewaltfrei ist. Dabei ist Gewalt an sich – obwohl verachtenswert – nicht das eigentliche Problem; Schmerzen vergehen, Beleidigungen kann man verkraften. Viel schlimmer ist, wenn dabei dem Kind eine Denkweise zur Vermeidung aufgezwungen wird, denn diese vergeht nicht – solche Denkweisen sind die geistigen Narben, die ein Kind behält und unter denen es später leiden kann. Und sie entstehen, wenn Autorität (sei es mit oder ohne explizite Gewalt) nicht mit Respekt gegenüber dem Kind einhergeht; wer das, was er fordert, nicht auch für sich selbst beachtet, erzeugt Dressur und ein Gefühl des Ausgeliefertseins, und das ist das eigentliche Problem – das Kind ist in seinem Denken nicht mehr frei und unbeschwert, sondern hat Zwänge im Kopf, über die es später stolpern kann.
In letzter Zeit wird die Vorstellung populärer, das Kind bräuchte geeignete Rollenvorbilder. Sehe ich anders. Natürlich soll man dem Kind gutes Verhalten vorleben, statt nur zu predigen; allerdings so, dass das Kind diese Verhaltensweisen von seinen Mitmenschen zu schätzen lernt, statt nur deren Verhalten oberflächlich nachzuäffen. Inneres Verständnis der Anderen (und umgekehrt auch Verstandenwerden), statt ein passendes Schema, um hineingepresst zu werden. Wichtig ist weniger das konkrete Verhalten (welches situationsabhängig ist), sondern die dahinter liegenden Beweggründe, die unabhängig von sozialer Stellung, Alter und Geschlecht sind; entsprechend kann jeder sie vermitteln.
Ähnlich ist es mit Benimmregeln. Es ist zwar unerträglich, wenn sich jemand nicht benehmen kann; allerdings ist es nicht das Entscheidende, Dutzende von teils überholten Verhaltensweisen zu lernen. Gute Manieren zu haben heißt, sensibilisiert zu sein, kleine unterschwellige Rücksichtslosigkeiten zu erkennen und zu vermeiden. Darum gibt es kein „richtig“ und „falsch“, sondern immer nur ein „angemessen“ oder „nicht angemessen“; Regeln sind keine Zwangsjacke, sondern eine Richtschnur.