Ein Philosoph ist, wörtlich übersetzt, ein „Freund der Weisheit“. Weisheit, das ist der Weg, um zu Wissen und Wahrheit zu gelangen – oder wie in der Wikipedia treffend geschrieben ist, „Wissen ohne Wissen“. Es ist nichts, das man erwerben oder lernen kann; es ist kein erreichbares Ziel, auf das man direkt zusteuern kann, sondern nur ein Weg, welchen man nur selber gehen kann. Philosophie hat weniger damit zu tun, Wissen oder Weisheit anzusammeln, sondern eher im Gegenteil Irrtümer und Einbildungen loszuwerden. Ein Philosoph wird niemand, der nach der Devise „Wissen ist Macht“ handelt, sondern jemand, der von Bescheidenheit geprägt ist. Jemand, der seinen Vorstellungen und Wahrnehmungen misstraut, aber seiner Vernunft vertraut; der nicht geistigen Besitz anhäuft (bis er nicht mehr denken muss, sondern auf alles eine schnelle Antwort hat), sondern mit Hilfe von Wissen seine Vorurteile abspeckt und seine geistige Agilität und Ausdauer trainiert.
Ich empfinde mich als ein Freund der Weisheit. Um sie geht es, und nicht um berühmte Philosophen. Aber ein paar ihrer Konzepte, die mir als Wegweiser dienen, möchte ich erwähnen.
Die Vorstellungen des Sokrates kommen dem Grundkonzept dessen, was Philosophie ist, wohl am nächsten – oft wird es zusammengefasst in dem Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Damit erhebt er aber das Nichtwissen nicht zu etwas Akzeptablen oder Erstrebenswerten, sondern erklärt es zu dem Grundzustand, von dem aus die Überlegungen beginnen müssen (und nicht in irgendwelchen übernommenen Vorstellungen). Entsprechend empfand er sich nicht als weise (auch wenn er oft so bezeichnet wurde), sondern nur zur Weisheit berufen. Seiner Meinung nach resultiert alles Unrecht lediglich aus dem Unwissen, wie man es besser machen könnte – die Suche nach Wissen ist also Pflicht für jeden Menschen. Als Mittel, um die Leute zum Wissen zu bringen, diente ihm die Mäeutik – er belehrte nicht die Leute, sondern stellte ihnen Fragen, so dass sie selbst zur Erkenntnis ihrer Irrtümer gelangen konnten (wobei er versuchte, durch Menschlichkeit und Respekt die Leute nicht bloßzustellen). Suche nach Wissen war für ihn also untrennbar mit der Suche nach Ehrlichkeit verbunden.
An dieser Stelle muss ich auch noch einmal Richard Feynman (siehe bei Vorbilder) erwähnen. Er sagt dazu konkret: Man muss sehr darauf achten, dass man sich nicht selbst betrügt – denn man selber ist die Person, die sich am leichtesten betrügen lässt. Andere Leute nicht zu betrügen ist dann kein Problem mehr – wenn man sie nicht unabsichtlich betrügt, muss man nur noch ehrlich im klassischen Sinn sein, d.h. sie auch nicht absichtlich betrügen.
Dass man Weisheit nur durch einen gewissen Verzicht erlangen kann, wird vor allem im
Zen-Buddhismus hervorgehoben. Dessen Kernaussage, dass man Erleuchtung nur durch absolute innere
Leere erreichen kann, entspricht genau dem. Das Ziel ist ein Verzicht auf Ablenkung, auf Rituale und
Ausreden; es gibt eben genau keine Zauberformeln, mit denen man um Beistand einer höheren Macht
bitten kann, sondern jeder muss sich selbst helfen und dazu erst einmal selbst erkennen. Es gibt also
kein Patentrezept; Zen ist „der weglose Weg, das torlose Tor“, jeder muss es für sich
selber finden. Ziel ist die Konzentration auf jeweils das, was gerade wichtig ist; alles Andere wird
ignoriert. Die Entsprechung dessen findet sich in den Tätigkeiten, die im Japanischen mit
-dō enden (jap. Weg) – beispielsweise bei Kyūdō
(Bogenschießen) zählen nicht Fitness, Wettbewerb oder Reflexe, sondern Konzentration. Es geht
nicht darum, zu lernen, wie man ein gewünschtes Ergebnis liefert (= ans Ziel kommt), sondern wie
man die Aufgabe gut erledigt (= den richtigen Weg nimmt). Während diese Übungen mehr die
körperlichen Voraussetzungen trainieren, gibt es zum geistigen Training die Koans; diese Anekdoten
sind oft ganz mit Absicht vollkommen unverständlich, denn sie wollen genau zeigen, dass man bei
ihnen zu keiner Lösung kommen kann, dass man vor manchen Fragestellungen einfach ehrlich
kapitulieren sollte, anstatt sie mit vorgefertigten Ansichten zu interpretieren.
Von den
Grundgedanken her in eine ganz ähnliche Richtung geht übrigens auch das Tao Te King des
chinesischen Philosophen Laotse.
Auch in anderen Religionen finden sich ähnliche Aufforderungen zum Verzicht und zur Selbstbesinnung, wenn auch kaum in derartiger Prägnanz. Das gesamte Neue Testament ist letztendlich der Kampf Jesu gegen die religiös inspirierten Verhaltensweisen der Menschen, die komplette Perversionen ihrer ursprünglichen Bedeutungen geworden sind, obwohl sie scheinbar wortwörtlich befolgt werden. Die Botschaft von Jesus kann man entsprechend weitgehend zusammenfassen in „konzentriere dich nur darauf, was gerade getan werden muss, und tue es“. Vermutlich ist eine der Haupt-Intentionen der meisten Religionen, den Menschen mit Hilfe ihrer Autorität darin zu bestärken, den erwähnten Verzicht auf eigene (und damit egoistische) Sichtweisen einzugehen – denn dies entspricht einem Verlust von Selbstsicherheit und -bewusstsein, erzeugt also zunächst einmal Schwäche. Nur wer sich auf diese Durststrecke einlässt (bzw. wem dazu die Freiheit gegeben wird), kann zu Erkenntnis gelangen. Leider ist diese Aussage oft verborgen hinter viel oberflächlichem Brimborium und tiefreligiösen Leuten, die aus voller Überzeugung den Glauben als Quelle von Ausreden verwenden, um sich damit selbst sowie auch ihre Mitmenschen zu täuschen.
Ähnlich dazu: Für die Stoiker ist die Tugend das zu erreichende Ziel. Dabei
wurde ihnen oft eine gewisse Realitätsferne vorgeworfen – die Bedürfnisse des Menschen
würden außer Acht gelassen. Allerdings ist die Tugend, die sprichwörtliche
„stoische Ruhe“ (Apathie, Autarkie und Ataraxie), für sie kein
Selbstzweck – sondern nur, wer in der Lage ist, seine Gefühle und Affekte zu kontrollieren,
kann dadurch aus festgelegten Verhaltensmustern ausbrechen und zu echter Freiheit gelangen (d.h. nicht
tun können, was man will (= wollen muss), sondern wollen können, was man tut (= tun
muss)). Oder wie Diogenes von Sinope (den man allerdings zu den – noch radikaleren –
Kynikern rechnet) ausdrückt:
„Du bist der Sklave meines Sklaven; denn ich beherrsche
die Habgier, und sie beherrscht dich.“
Nachdem die Ziele von Tugend und Moral geklärt sind, ergibt sich daraus auch der Sinn von Philosophie, die ja den Weg zu Weisheit und Tugend darstellt. Es geht also darum, mit Hilfe der Philosophie eine stabile Basis für sein Weltbild und damit seine Handlungen zu schaffen, um nicht von scheinbaren Sachzwängen und falschen Einbildungen gesteuert zu werden. Zum Anderen bedeutet Philosophie aber auch immer, nicht nur nachzudenken, sondern auch zu argumentieren – also nicht nur (vielleicht intuitiv) zu den „richtigen“ Schlüssen zu kommen, sondern – weil diese oft genug mangels passendem Schema unpopulär und unverstanden sind – diese auch in verständliche Worte fassen zu können. Ein Philosoph ist ein Denker, der sich rechtfertigen kann; Kants Aufforderung „sapere aude“ dazu ist in einer Zeit, in der es dank der Medien jede Menge passender Verhaltensschemata für jeden Bedarf gibt, aktueller denn je.
Abstrakte Ideale sind das Eine; sie im Konkreten aber richtig anzuwenden, ist nicht einfach.
Nicht alleine die Absicht reicht; Worte ohne Bezug zur Realität sind leer und können alles
bedeuten. Erst durch die konkrete Handlung füllt man sie mit Inhalt; nur der, der die Konzepte
verstanden hat, vermag dies zu tun – für ihn sind sie mehr als nur Schall und Rauch.
Man kann jedoch nicht in jedem Moment alle Handlungsanweisungen mit purer Logik neu aus dem Abstrakten
herleiten – es ist nötig, seine Vorstellungen in Worte zu fassen und in gewisse
Verhaltensregeln zu gießen, um sie in einer handhabbaren Form zu haben und im Alltag mit ihnen
umgehen zu können.
Feste Regeln sind jedoch für den, der ihre Herkunft nicht kennt, kein hilfreicher Leitfaden,
sondern ein behinderndes Korsett (wenn sie ihm im Weg stehen) oder auch ein argumentativer Rammbock
(wenn er sie gegen den Weg anderer Leute richtet). Aber eine vorgegebene Richtung führt nur dann
zum Ziel, wenn auch der jeweilige Ausgangspunkt dazu passt; ansonsten kann man mit jeder Verhaltensregel
alles rechtfertigen (und sich womöglich noch als Mensch mit hohen moralischen Vorstellungen
profilieren). Wer jedoch den dahinter liegenden Sinn verstanden hat, dem kann ich einen Text von
Matthias Claudius empfehlen, nämlich den Brief an seinen Sohn Johannes. Dort sind einige sehr treffende und prägnante
Verhaltensweisen beschrieben, in denen ich meine Ideale fast perfekt wiedererkenne. So eine Sammlung kann
natürlich niemals erschöpfend sein; aber sie kann sich mit anderen ergänzen, oder die
Dinge aus einem anderem Licht beleuchten. Darum habe ich meine (für mich relevanten und nicht
unbedingt selbstverständlichen) Erfahrungen in
einer eigenen Sammlung zusammengetragen.
Eine weitere Beschreibung konkreten Verhaltens findet sich in den Texten der Hacker-Kultur, vor allem von Eric S. Raymond. Obwohl sich Texte wie How To Become A Hacker und How To Ask Questions The Smart Way sehr speziell um Computer und die Open-Source-Bewegung drehen, gelten ihre Aussagen eigentlich für das gesamte menschliche Leben und Verhalten. Selbst das Buch The Art of Unix Programming, welches zu ergründen versucht, welche Designprinzipien Unix derart zeitlos erfolgreich werden ließen, kann auf diese Weise interpretiert werden – das Verhalten eines Programms, das möglichst gut und effizient mit anderen Programmen zusammenarbeiten soll, zeigt große Parallelen zum Verhalten eines Menschen, der möglichst gut und unaufdringlich mit seinen Mitmenschen zusammenlebt und kooperiert. Aufgrund dessen wurde mir bewusst, dass mit „Hacker“ eigentlich weniger eine Computerbegeisterung oder ein Hobby gemeint ist, sondern mehr eine Lebenseinstellung. Siehe hierzu meinen Text Was ist ein Hacker?.
Aber es funktioniert auch der umgekehrte Weg – man kann nicht nur aus der Theorie Regeln für die Praxis ableiten, sondern sich auch von der Praxis leiten lassen und darin philosophische Muster erkennen. Das funktioniert beispielsweise bei gewissen Sportarten; immer dann, wenn man nicht in feste Regeln gezwängt ist oder diese selber definiert, sondern sich von äußeren Umständen lenken lassen muss. Das kann Langstreckenradsport sein, wo man nicht alleine durch seine eigenen Kräfte begrenzt ist, sondern sich auch der Topografie und dem Wetter, gerade auch bei widrigen Bedingungen, fügen muss. Ebenso beim Bergsport. Auch beim Segeln muss man mit den Umständen arbeiten, nicht gegen sie. Selbst beim Inlineskaten durch den Großstadtdschungel kann man diese Erfahrung machen; man muss sich herantasten, kann nichts erzwingen, muss seinen Schwerpunkt jederzeit über den Rollen halten – und wenn man das kann, gelingen selbst unter diesen Restriktionen überraschende Fahrmanöver. Nicht das Ego diktiert, sondern man liefert sich zu einem gewissen Maß der Natur und ihren Gesetzen aus und beobachtet, was dann geschieht. Man stellt Fragen, und lässt sich von der Antwort überraschen. Das taugt zwar nicht zur Entwicklung von Theorien, aber man entdeckt doch immer wieder Aspekte aus den obigen Absätzen wieder bzw. sieht sie aus einer neuen Perspektive.
Gerade das ist nämlich nicht unwichtig: Man muss nicht nur Ideale haben und daraus
abgeleitete Verhaltensregeln – sondern man muss auch in der Lage sein, seine Ideale in
Alltagssituationen wiederzuerkennen. Und sie somit aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten
können. Inspirierend dazu kann manchmal die Kunst sein, denn ihre Aufgabe ist vor allem, bekannte
Dinge in neuem Licht zu präsentieren. Was auch immer das heißen mag – das kann
beispielsweise durch Fotografie (die nicht
„aus dem Nichts“ erschaffen kann) geschehen, oder durch Filme, Essays oder Songtexte.
Kreativität muss nämlich nicht immer heißen, etwas Neues hervorzubringen, sondern kann
auch Altbekanntes auf neuartige und treffende Arten ausdrücken und somit zu neuen
Betrachtungsweisen inspirieren.
Aber nicht nur die Kunst kann, auf ihrer Suche nach Ausdrucksformen, neue Betrachtungsweisen
hervorbringen. Das kann ebenso die Wissenschaft
leisten, allerdings auf eine sehr auf Quantifizierung ausgerichtete Art und Weise. Donald E. Knuth sagte
dazu sehr schön, Wissenschaft sei das, was man so genau kenne, dass man es einem Computer
erklären könne, und Kunst sei alles andere.
Sehr inspirierend waren nicht zuletzt auch die Aphorismen, die ich in meiner Zitatsammlung zusammengetragen habe. Der Zusammenhang
mit Philosophie wird am besten durch folgendes Zitat dargestellt:
„Weisheit in kleiner Münze ist, was Sprichwörter uns geben.“ (George Meredith)
Es gibt unzählige solcher Zitatsammlungen, aber die meisten der Zitate erscheinen mir entweder als
trivial, falsch oder zu wenig allgemein. Von ca. 20000 Zitaten, die ich durchsucht habe, sind das die
besten, die ich gefunden habe und auch nicht mehr verlieren will.
Warum sind die hier erwähnten Philosophen nicht auf der oben erwähnten Liste meiner Vorbilder aufgeführt? Ich habe das Gefühl, zu wenig über sie zu wissen. Aber vor allem geht es bei Philosophie nicht um Personen, sondern um die Inspiration durch ihre Konzepte; Philosophie ist nicht etwas, über das man viele Fakten wissen muss, sondern etwas, das man tun muss.